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2022-10-16 22:08:30 By : Ms. Eileen Song

Viele wünschen sich das private Heim als Heimat - "Hygge" ist groß. All das verschleiert in seiner flauschigen Gemütlichkeit aber auch, wie rückschrittlich die Konzepte zum Teil sind.

So, hat denn jemand ein paar schöne Dinge zu Weihnachten bekommen? Dann ist es wohl langsam Zeit, sie irgendwohin zu tun. Die Schale, die Vase, den Kerzenständer. Es stellt sich die Frage der Aufnahme und dann der Integration ins gewohnte Wohnen: Was wird prominent platziert, was mit Bekanntem arrangiert? Was kommt vorerst in den Schrank, was stoßen wir ab? Zum Teil einer unbelebten Wohngemeinschaft der privaten Sachen und Räume zu werden ist ein Privileg; und erst nach einer gewissen Zeit des Bleiberechts wird alles zusammen zu dem Ganzen gehören, das mit unserem Leben erfüllt ist. Manche nennen das ihre Einrichtung, manche gar ihre Heimat.

Vor einigen Jahren hat der englische Ethnologe Daniel Miller ein Buch geschrieben, das man nie vergisst, wenn man es gelesen hat. Vielleicht vergisst man ein paar Leute darin, aber nie die Atmosphäre. Das Buch heißt "Der Trost der Dinge", und es erzählt soziologische Homestorys von verschiedenen Bewohnern einer Straße in London und davon, womit sie sich zu Hause umgeben haben. Man erfährt auf diese Weise hautnah, wie Menschen sich auf unterschiedliche Weise ihre Bleibe geschaffen haben und wie sie ihrerseits von deren Ausstattung zu dem gemacht werden, was sie sind. Die beiden Extremfälle: Der junge Berufstätige, der allein lebt, und zwar in radikal minimalistischen, leeren Räumen; und alles, wirklich alles, was er abgesehen von Kleidung und Nahrung hat und tut, ist in einem tragbaren Gerät, in seinem Laptop oder seinem Handy. Und nebenan wohnt, ebenfalls alleine, eine alte Frau, beinah schon blind, seit Jahrzehnten umgeben von einer Fülle alter Möbel, Bilder und Gegenstände, an denen sie sich durch ihre Wohnung tastet und hangelt; jede Ecke, jeder Handgriff ist vertraut, und es ist das erfühlte Museum ihres Lebens, das ihr Halt gibt.

Es gilt fürs Wohnen der Gegenwart, besonders aber für die wachsende Verstädterung, was Daniel Miller schreibt: "Nie zuvor konnten so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft einander auf derart engem Raum begegnen - oder aus dem Weg gehen." Diese Diversität und Beweglichkeit - der Menschen, der Lebensstile wie des Kapitals - ändert aber nichts daran, ja sie verstärkt es eher, dass die meisten sich an ihr Zuhause klammern und sich damit identifizieren. Ob es nun das Elternhaus ist, mit seinen Gerüchen, seiner Bettwäsche und seinen sonstigen Eigenheiten, oder die aktuelle Wohnung, selbst dort, wo man sich als kreativ, innovativ und flexibel begreift: Wenn Wohnen überhaupt so etwas wie Heimat sein kann, dann immer und vor allem als Erinnerung - Erinnerung ans Herauswachsen aus dem ersten Familiennest; oder an den ebenfalls längeren, nie ganz planbaren Prozess des Hineinwachsens in eine immer gewohntere Umgebung, ein Prozess, der auch nach vielen Umzügen immer wieder neu einsetzt.

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Allerdings sperrt sich das Wohnen auch gegen die einfache Gleichsetzung mit "Heimat". Dafür ist es zu elementar, zu fassbar, drinnen statt draußen, während das Gefühl der Heimat nie völlig konkretisiert werden darf, um sich nicht aufzulösen.

"Das Wohnen aber ist der Grundzug des Seins, demgemäß die Sterblichen sind", heißt es in hohen Worten bei dem Philosophen Martin Heidegger in seinem Vortrag "Bauen, Wohnen, Denken" von 1951 (der sonst aber, wie so oft bei Heidegger, durch etymologische Spekulationen ziemlich nutzlos ist). Und der Medientheoretiker Villém Flusser riet in seiner philosophischen Autobiografie "Bodenlos" dazu, die Heimat als das Unbeständigere zu verstehen - was mit seiner eigenen Migrationserfahrung zu tun hatte. Er war 1939 aus Prag geflohen, der Rest seiner Familie wurde im Holocaust ermordet. "Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde", schreibt Flusser, "es ist das Primäre." Nur durch eine "Verwechslung" von Wohnung und Heimat, so Villém Flusser, entstehe so etwas wie Patriotismus, ein Gefühl, das über alles hinwegsieht, was im Argen liegt.

So ein existenzielles Auseinanderklaffen halten indes nicht viele aus. Die Leute wollen es über die Grundbedürfnisse hinaus zu Hause schön haben, was immer sie jeweils darunter verstehen, und ihre Heimat gleichsam immer wieder neu installieren. Dieses Unterfangen findet bis auf minimale Ausnahmen in den Grenzen des einzelnen Haushalts statt, die sich höchstens auf eine Personengruppe im niedrigen zweistelligen Bereich ausdehnen lassen, also etwa auf die Siedlungsgrößen zum Beginn der menschlichen Sesshaftigkeit vor gut 15 000 Jahren.

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Dabei gibt es in jüngster Zeit viele Initiativen für neue Wohnformen. Die bürgerliche Wohnung, in der einzelne Räume spezifische Funktionen haben und oft den ganzen Tag oder die ganze Nacht leer stehen, ist ja nicht gottgegeben. Es gibt eigentlich viele gute Gründe - demografische, ökologische, integrationspolitische, ökonomische -, eine bessere kooperative Infrastruktur und Architektur zu entwerfen und damit auch den Trend zum Alleinwohnen auszugleichen.

Trotzdem ist insgesamt die Lust, Sofa und Küche mit seinen Nachbarn zu teilen, bislang nicht groß. In Deutschland haben Mietshäuser in der Regel noch nicht einmal eine gemeinsame Waschküche. Der Flächenbedarf des Einzelnen wächst eher mit dem Wohlstand. So herrscht einerseits Wohnungsnot, andererseits geschieht die eigentliche Landnahme kaum noch durch große öffentliche Projekte, sondern durch die Vervielfältigung und Vergrößerung des Privaten. Das bewegliche und flüssige Kapital setzt gerade auf den Wert fester Behausungen.

An der scheinbar beweglicheren Inneneinrichtung, wie sie in diesen Tagen wieder auf der Kölner Möbelmesse gefeiert wird, zeigt sich: Längst ist das meiste moderne Design von Schöpfern, die damit einmal gesellschaftlichen und ästhetischen Aufbruch bewirken wollten, in das traditionelle Wohnen inkorporiert worden. Hinstellen statt Herumtragen, Distinktion statt Reform. Über diese Beharrlichkeit des Privateigentums - ob nun vermietet oder selbst bewohnt wird - darf man sich von einer kleinen Klasse globaler Berufsnomaden nicht täuschen lassen.

Auffällig ist vielmehr eine Reaktion auf immer mehr Verflechtung, Wettbewerb und technisierte Kommunikation, und wohl auch auf immer mehr Migration - eine Reaktion, die in die andere Richtung geht: die Flucht in eine aufgeklärte Gemütlichkeit. Die gibt es zwar schon länger, aber seit ein paar Jahren wird sie unter der dänischen Überschrift "Hygge" (etwa: "Heimeligkeit") in einer beispiellosen weltweiten Bilderflut als Wohlfühl-Ideologie propagiert. Stilbewusste Mittelklassemenschen des Instagram-Zeitalters führt "Hygge" in ein Dilemma: Einerseits haben die Skandinavier in der Tat zwar klimatisch und kulturell bedingt wenig öffentlichen Raum, dafür aber schon lange die schöneren Lampen und den besseren Geschmack. Als konkrete Wohnberatung ist fast alles richtig, was aus dem Norden kommt: eine Kombination aus dezentraler Beleuchtung, klaren bis strengen Formen und warmen Naturstoffen.

Als imaginierte "Scandi"-Kuschelwelt hingegen, als inszeniertes Lebensmodell ist diese Begeisterung fürs einst fortschrittliche Skandinavien ins Regressive gekippt. Die Deko-Imperien, auf denen "Copenhagen" steht, bedienen die Sehnsucht nach handwerklicher Glaubwürdigkeit und lassen massenhaft in Asien produzieren. Die antiquarischen Bücher, die neben Kerzen, Midcentury-Tischchen und Marimekko-Kissen drapiert sind, erweisen sich als Attrappen. Und die Frauen, die Hygge oder schwedisches "Lagom" (entspanntes Mittelmaß) empfehlen, freuen sich nicht mehr über die langen Öffnungszeiten der skandinavischen Kindergärten, sondern klammern sich - Trost der Dinge! - an ihre Teetassen: "Diese Zauberwesen", so schreibt der Skandinavist Bernd Henningsen sarkastisch, "backen gerne, kümmern sich um die ästhetisch anspruchsvolle Wohnungseinrichtung, planen den Familienurlaub, singen, sammeln Blaubeeren, gärtnern - sind also ausgefüllt mit den klassischen Frauentätigkeiten von heute."

Der Mensch, der als Nomade begonnen hatte, perfektioniert die Sesshaftigkeit immer weiter. Im Einzelnen spricht nichts dagegen, das Wohnen schöner zu machen, wenn die kollektive Einigkeit, was sonst eigentlich Heimat sei, schwindet. Aber natürlich ist der Gemütlichkeitswahn auch dazu da, Veränderungen zu überspielen. Das aufgeräumte Einkuscheln steht in seltsamem Gegensatz zur Verflüssigung der Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit, zum voll vernetzten Smart Home und zur digitalen Transparenz. Und es versucht, die Re-Ökonomisierung des Wohnens zu kaschieren. Denn das Freihalten von (männlicher) Erwerbsarbeit, das einst die bürgerliche Wohnung kennzeichnete - im Unterschied zur unentgeltlichen oder schlecht bezahlten Frauenarbeit zu Hause -, geht durch das Home Office und die ständige Erreichbarkeit zu Ende. Wie die wiederkehrende Einheit von Arbeit, Konsum und Wohnen zur neuen Heimat werden kann, ist die Frage der Zukunft.

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