Campino im Interview: „Ein bisschen Unvernunft geht völlig in Ordnung“

2022-09-23 17:07:31 By : Ms. Kitty Xu

Campino, Sänger der Toten Hosen, feiert dieses Jahr gleich zwei runde Geburtstage. Ein Gespräch übers Altwerden und die Kunst der lebenslangen Provokation.

Die Toten Hosen werden 40, Sänger Campino am 22. Juni 60 – würdigere Anlässe, um das bisherige Schaffen auf einer Werkschau zu bündeln, dürfte es kaum geben. Und so veröffentlichen die Düsseldorfer, auch rechtzeitig zur großen Stadiontournee, die Bestandsaufnahme „Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen“.

Campino, ab Juni spielen Sie wieder in den großen Stadien.

Endlich! Die Gesellschaft braucht solche großen, kollektiven Erlebnisse. Wir müssen uns alle mal wieder spüren können. Mit ganzer Leidenschaft. Ich bin auf jeden Fall hoffnungsvoll, dass wir einen offenen, schönen Sommer erleben werden, soweit es die politische Situation zulässt.

Wodurch haben Sie in den vergangenen zwei Jahren die gemeinsamen Erlebnisse und Abenteuer ersetzt?

Ich habe versucht, meine Glücksgefühle in kleineren, privaten Momenten zu finden, bin zum Beispiel Ski gefahren und sehr viel spazieren gegangen, oft im Wald, und habe mir immer wieder vergegenwärtigt, dass es mir trotz der Umstände ganz gut geht. Wir befinden uns seit zwei Jahren in einer Art Durchhaltemodus, die Pandemie ist noch nicht vorbei und jetzt kommt auch noch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg auf die Ukraine hinzu, eine unübersichtliche und schreckliche Situation, von der wir alle nicht wissen, wie sehr sie noch eskalieren oder wann sie zu Ende sein wird. Ich bräuchte eine Glaskugel, um beurteilen zu können, wie die Welt in drei Monaten aussehen wird. Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist die, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind – auch diese furchtbare Kriegssituation nicht.

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer „Zeitenwende“. Sie auch?

Ja, das ist ein Rieseneinschnitt. Wir Menschen sind um 50, 60 Jahre zurückgeworfen worden in Verhältnisse, von denen wir glaubten, dass wir sie nicht mehr erleben müssten. Es ist nochmal überdeutlich geworden, dass es in der Weltpolitik ein Kräfteverhältnis geben muss, das auch dem größten Verbrecher den Appetit verhagelt, gegen andere Länder aggressiv zu werden.

„Ich glaube, dass die Welt sich noch mal ändern wird, und dann Gut über Böse siegt“, haben Sie 1993 in „Wünsch dir was“ gesungen. Bleiben Sie trotz allem ein zuversichtlicher Mensch?

Die Zuversicht sollten wir uns alle nicht nehmen lassen. Gerade in den schlimmsten Umständen stellt sich immer wieder heraus, was es auch für großartige Menschen gibt. Zum Beispiel die Klitschko-Brüder. Die könnten gerade auch in Miami leben und auf Spendengalas für die Ukraine sammeln. Aber sie stehen in Kiew, bei den Menschen, und machen auf bewundernswerte Art und Weise Mut. Genauso der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der unglaubliche Reden hält und die Leute extrem motiviert. Oder auch die Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern, die ihre Patienten nicht im Stich lassen. Diese Menschen bewegen mich unglaublich und geben mir, bei aller Ohnmacht und Ungewissheit, auch Mut.

Meine Priorität ist ein Ende der Gewalt und eine Welt, in der man sich trotz verschiedener Ansichten mit Respekt behandelt.

Was wünschen Sie sich gerade am meisten?

Das ist sehr einfach. Meine Priorität ist ein Ende der Gewalt und eine Welt, in der man sich trotz verschiedener Ansichten mit Respekt behandelt. Eine Welt, in der wir wieder sorgloser sein können und uns dieser Sorglosigkeit auch bewusst sind. Dass man das Glück, das man hat, auch würdigt.

Waren Sie bis zur Pandemie ein sorgloser Mensch?

Das kann man so nicht sagen. Ich denke, wir sind ein Stück weit selbst dafür verantwortlich, ob es uns gut oder schlecht geht. Je nach unserer persönlichen Sicht auf die Dinge finden wir Menschen immer irgendetwas, das uns Sorgen macht. Und es ist auch nicht so, dass die Welt wieder in Ordnung wäre, wenn die Pandemie oder der Krieg in der Ukraine zu Ende sind. Uns droht immer noch eine Klimakatastrophe, die auf subtilere Art und Weise daherkommt, weil man sie auf den ersten Blick nicht richtig sehen kann. Trotzdem halte ich es für existenziell wichtig, dass wir uns auch mal rausziehen und offen sind für die positiven Augenblicke des Lebens. Alles ist besser als den Kopf in den Sand zu stecken und zu sagen „Das wird eh nichts“.

40 Jahre Die Toten Hosen, Ihr ganzes erwachsenes Leben lang. Hören Sie diese 43 Songs umfassende Werkschau jetzt durch und denken „Alter, das ist mein Leben“?

Ja. Jedes dieser Lieder erzählt eine eigene Geschichte. Manche waren für uns Wendepunkte, manche sind uns mit den Jahren noch stärker ans Herz gewachsen. Dieses Album ist für uns – wie hoffentlich auch für unsere Hörer – eine innere Zeitreise. So ein Lied kann einen Lebensmoment markieren, sei es das versemmelte Abi, eine unglückliche oder auch eine glückliche Liebe.

Man ist beim Hören plötzlich wieder 16 und erinnert sich an die ersten Besäufnisse zu „Opel-Gang“.

Ich finde es total in Ordnung, sich solche Rückblicke zu erlauben, ein wenig in Nostalgie zu schwelgen und gemeinsam über die Vergangenheit zu lachen. Man muss ja trotzdem nicht die Gegenwart aus den Augen verlieren oder im Nachhinein Dinge verherrlichen, die gar nicht so herrlich waren. Ein Beispiel: Wenn die Sex Pistols bei ihrer Reunion viele Jahre später wieder die alten Lieder spielen, dann ist ganz wichtig, dass sie über sich selbst lachen können und nicht versuchen, jenes aggressive Lebensgefühl von damals heraufzubeschwören, das man der Band nicht mehr abkaufen würde. So ist das auch bei uns. Ich versuche, zu den alten Liedern ein entspanntes Verhältnis zu haben. Die „Opel-Gang“ war zu ihrer Zeit genau richtig, aber sie gehört eben auch in diese Phase. Es wäre Quatsch, so zu tun, als wären wir noch die Typen von damals.

„Und die Jahre ziehen ins Land, und wir trinken immer noch ohne Verstand“, singen Sie in „Bis zum bitteren Ende“ aus 1987. Wann hat Alkohol aufgehört, wichtig zu sein?

Nie. Es ist nur anders. Vielleicht nicht mehr so grenzüberschreitend. Die Veränderung passierte schleichend. Dass sich Anfang der 80er ein paar sehr junge Menschen hinstellten und sagten „Wir verschleudern unser Leben auf diese stumpfe Art“, damit konntest du damals noch schocken. Einige Jahre später gehörte das Sauflied zum guten Ton einer jeden Unterhaltungs- und Schlagerband. Dadurch war das Thema als Provokation für uns nicht mehr so interessant. Wir haben uns neue Gebiete gesucht, und es fing an, uns zu langweilen, über jeden Exzess in unserem Leben Buch zu führen.

Man vergisst oft, dass Punk seinerzeit noch Provokation war.

Das stimmt. Wir alle wollten in jungen Jahren weg von zu Hause, wollten uns spüren und in die Extreme gehen. Du erzählst jede Menge Blödsinn und machst, teils aus Unsicherheit, viel Mist. Das ist das Privileg der Jugend. Irgendwann setzt die Phase ein, wo du dich nicht mehr so gnadenlos vor anderen produzieren musst, das geht schon beim Outfit los. Wenn du lange dabei sein und relevant bleiben willst, funktioniert das nicht mit Oberflächlichkeiten, sondern dann muss die Band dein Lebensinhalt sein. Das siehst du auch bei Gruppen wie den Rolling Stones. Man kann das mit einem Marathonlauf vergleichen: Du musst dein Leben anders dosieren, als wenn du von vornherein planst, nur zwei Sommer lang zu rennen.

Ist der Exzess bei Ihnen heutzutage wohldosiert?

Ich erinnere mich an die bestürzenden Bilder vom alten Harald Juhnke, als er betrunken in einen Glastisch gefallen war. Wäre dieses Foto im Alter von 20 Jahren entstanden, hätte es eine gewisse Romantik gehabt. So sah das einfach nur noch traurig aus. Ich hoffe, dass ich noch jede Menge wilder Partys erleben werde. Das mache ich dann aber für mich und nicht in der Öffentlichkeit.

Sind Sie heilfroh, dass es vor 40 Jahren noch keine sozialen Medien und keine Handys gab?

Man kann die Zeiten nicht miteinander vergleichen. Ich bedauere den Gang der Dinge überhaupt nicht, auch wenn man sich heute nicht mehr vorstellen kann, dass wir es früher zum Beispiel auch ganz ohne Handy geschafft haben, uns für morgens um elf Uhr in einer fremden Stadt am Tourbus zu verabreden. Die Zeiten sind heute nicht besser oder schlechter, sie sind nur anders.

Ihr Sohn Lenn Julian ist jetzt 18. Unterhalten Sie sich mit ihm über Ihre wilde Jugend?

Nur wenn es sein muss (lacht). Aber die Neugier meines Sohnes ist in diesem Bereich extrem gedeckelt. Der klebt nicht an meinen Lippen, um zu erfahren, wie geil es früher war. Das habe ich bei meinem Vater ja auch nicht gemacht. Wäre das nicht schlimm, wenn er alles aufsaugen würde, was ich getan habe oder heute tue? Mein Sohn hat definitiv ein gesundes Maß an Desinteresse, was meinen Werdegang angeht.

Worüber unterhalten Sie sich stattdessen?

Meistens über irgendwelche kleinen Schwierigkeiten, aus denen ich ihm heraushelfen soll (lacht). So soll es auch sein. Wenn ich mal nicht mehr bin, würde ich mich freuen, wenn mein Junge vielleicht denkt „Wie war das denn damals mit meinem Papa?“ Aber jetzt soll er doch bitte sein eigenes Leben führen, mit einem gesunden Gefühl von Sorg- und Respektlosigkeit.

Andreas Frege, Künstlername Campino, ist seit 40 Jahren Sänger der Toten Hosen, einer der populärsten deutschen Rockbands. Der gebürtige Düsseldorfer ist außerdem Autor („Hope Street: Wie ich einmal englischer Meister wurde“) und arbeitet auch als Schauspieler. Am 22. Juni wird der deutsch-britische Musiker und glühende Fan des FC Liverpool 60 Jahre alt.

Das 40. Band-Jubiläum der Toten Hosen wurde offiziell bereits im April begangen – so richtig feiern sie aber erst jetzt mit einem Doppelalbum („Alles aus Liebe“, ab 27. Mai im Handel) und einer Tournee (ab 7. Juni). Das Album besteht aus 43 Songs, davon sieben neue Stücke und sechs Neufassungen oder Remixes. dpa

Tourtermine unter www.dietotenhosen.de

Bei gleich mehreren Ihrer Songs fällt auf, mit was für einem liebevollen Blick Sie über Ihre Eltern geschrieben hast. War das Verhältnis immer sehr eng?

Ich musste meine Eltern mit sechs Geschwistern teilen, da ist klar, dass Vater und Mutter nicht für jeden endlos Zeit aufbringen konnten. Insofern waren meine Eltern zwar ein Regulativ, und man wusste auch, wo man sich sein Taschengeld abholt, aber meine Sorgen und alle meine Fragen rund um die Pubertät haben eher meine Geschwister mit mir verhandelt. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich verstanden, was für einen tollen Job meine Eltern gemacht haben. Sie haben uns alle gleich geliebt und nie versucht, einen von uns zu bevorzugen. Mein Rückblick ist mild, weil im Grunde alles in Ordnung war.

Hat es auch mal geknirscht?

Natürlich. Jahrelang habe ich nicht mit meiner Mutter in einem Raum gefrühstückt, weil sie meinen Anblick als Punk nicht ertragen hat. Ich glaube, in Wirklichkeit war sie einfach nur besorgt. Auch Eltern machen Fehler. Grundsätzlich zu wissen „Deine Eltern haben dich geliebt“, lässt einen aber so gut wie alles verzeihen. Umgekehrt gilt das natürlich genauso.

Sie waren stolz auf Sie?

Ja, aber auch nicht mehr als auf meine Geschwister. Sie haben sich von Anerkennung in der Öffentlichkeit nicht beeindrucken lassen.

„Chaot (in mir)“ heißt eines der neuen Lieder. Ist es wichtig, sich den zu erhalten?

Ich möchte mir selbst nicht absprechen, dass hin und wieder mal eine Sicherung rausfliegt und man am nächsten Tag denkt „Ach du scheiße“ (lacht). Es sollte immer auch ein gewisser Prozentsatz von Unberechenbarkeit dabei sein – ein bisschen Unvernunft geht völlig in Ordnung.

Passen Sie zugleich auf, dass Sie nicht zu bürgerlich werden? Immerhin sind Sie vor einigen Jahren sogar in den Stand der Ehe eingetreten.

Ich habe mich nie damit beschäftigt, was bürgerlich ist und was nicht. Oder was das sogenannte Spießbürgertum sein soll. Ich bemühe mich nicht, zu verhindern, dass ich bürgerlich werde oder es sogar schon bin. Ich mache das, was ich für richtig halte.

Wir sind als Band immer deckungsgleich mit unseren innersten Gefühlen unterwegs gewesen.

Am 22. Juni werden Sie 60. Beschäftigt Sie das?

Es beschäftigt jedenfalls alle anderen, deshalb werde ich auch immer wieder mit diesem Datum konfrontiert. Ich schätze, je schneller man eine solche Zahl akzeptiert, und mehr ist es ja nicht, desto besser kommt man damit klar. Ich versuche nicht, mich dieser Sache zu entziehen oder mich dagegen zu wehren. Wie auch? Ab 60 hast du eh nichts mehr zu verlieren (lacht).

„Live to serve“ – kann man das auch über Die Toten Hosen sagen?

Wenn es nicht so gnadenlos vermessen wäre, uns selbst eine solche Wichtigkeit zu geben, dann würde ich sagen: Ja. Wir sind als Band immer deckungsgleich mit unseren innersten Gefühlen unterwegs gewesen, es war nie eine Schwierigkeit, diese Leidenschaft miteinander auszuleben, und wir blicken auf wirklich tolle gemeinsame vierzig Jahren zurück.

Und ein neuer Song wie „Alle sagen das“ muss sich ja auch vor den Klassikern nicht verstecken.

Da ist uns in der Tat ein Kracher zugelaufen. In diesem Lied gestatten wir uns ein kleines dreckiges Grinsen. Wir selbst haben Freude daran zu entdecken, dass uns der Saft noch nicht entzogen wurde. Also schicken wir diese Nummer mit ein paar anderen als Gruß aus der Küche. Soll sich niemand sorgen, dass von uns kein knackig-frisches neues Album mehr kommen wird. (Interview: Steffen Rüth)