70 Quadratmeter reiner Wahnsinn: Ist das Prenzlauer Bergs verrückteste Wohnung?

2022-10-16 01:06:57 By : Ms. Lina Jiang

Kerstin Diehls Wohnung erinnert an das haarsträubende, comichafte Memphis-Design. Die PR-Frau bezeichnet sich selbst trotzdem als Minimalistin. Ein Besuch.

Die Frau hat sich vorbereitet: „Das Bild habe ich am Wochenende schnell noch gemalt, damit es hier nicht ganz so leer ist“, sagt Kerstin Diehl und deutet auf das großformatige Gemälde im sonst so kargen Flur; eine Art Pop-Art-Expressionismus, Linien, Kurven, Flächen, in Blau, Orange und Pink.

Wie zum Beweis holt Diehl ihr Smartphone heraus, wischt durch die Galerie an Handyfotos, auf denen Schicht für Schicht das beeindruckende Kunstwerk entsteht. Perfekt fügt es sich ein in eine Wohnung, die vom kompromisslosen Spiel mit Form und Farbe lebt.

„Dabei“, sagt die Hobbykünstlerin und blickt prüfend von ihrem Smartphone-Bildschirm auf, „würde ich mich selbst ja eher als Minimalistin bezeichnen.“ Wer das hört und sich in ihrer krachbunten Altbauwohnung umschaut, könnte Diehl – pardon – beinahe für verrückt erklären. Schließlich will sich hier so gar nichts schlicht und zurückhaltend geben – von der orangefarbenen Artemide-Leuchte auf dem Esstisch bis zu den gestreiften und geringelten Vasen überall umher.

Aber es stimmt schon: Im Grunde steht auf den 70 Quadratmetern ihrer Wohnung am nördlichen Rand von Prenzlauer Berg gar nicht so viel herum. Die Möbel sind ausgesucht und wohl überlegt in den Räumen verteilt, nichts, worauf man nun wirklich auch verzichten könnte. Stattdessen kann man in Bezug auf Diehls Wohnung durchaus von einem klug kuratierten Gesamtkunstwerk sprechen, von Raumkonzepten, die sich nah am comichaften Stil der Memphis-Gruppe bewegen.

Der 1980 in Mailand gegründete Zusammenschluss aus Designerinnen und Architekten, Textilkünstlerinnen und Keramikern widersetzte sich bewusst dem Willen und der Selbstherrlichkeit großer Industrieauftraggeber; setzte dem gefälligen Massenprodukt die einzigartige, exaltierte Idee entgegen. Köstlich-kindlich sehen die Entwürfe der berühmtesten Memphis-Vertreter Ettore Sottsass und Michele de Lucchi aus, wie zu großgeratene Spielzeuge oder Möbel aus einem Willi-Wonka-artigen Fantasieland, wie Sessel aus Lakritz und zu Lampen entfremdete Bonbons. Ein haarsträubender Gestaltungsansatz, der aktuell wieder überaus viel Anklang findet – auch bei Kerstin Diehl.

Im Wohnzimmer etwa stehen der orangefarbenen Couch von Sofacompany ein roter handförmiger Sessel, den Diehl auf Etsy gefunden hat, und der „Bold“-Hocker von Moustache in Blau gegenüber. Im Schlafzimmer liegen auf dem Bett, direkt vor der streng schwarz-weiß-gestreiften Wand, üppig gefüllte Kissen von Tarta Gelatina mit Wellen- und Sanduhr-Formen darauf; gesellt sich zur roten Plastik-Sitzschale von Magis ein Beistelltisch mit Glasplatte und knallgelben Beinen, den Diehl über Pamono kaufte. Und wenn die PR-Frau nicht gerade die einschlägigen Vintage-Onlineshops durchforstet, wird sie auch selbst künstlerisch aktiv.

Nicht nur das große Pop-Gemälde im Flur zeugt davon. Auch ein Bild im Schlafzimmer hat Diehl selbst gemalt: Organische Formen in krassen Farben wabern darauf, bunte Einzeller, die sich zum psychedelischen Muster zusammentun, wie Pantoffeltierchen auf LSD. „Auch das Bild habe ich spontan, quasi aus der Not heraus gemalt“, sagt die Hausherrin. „Die schwarz-weiße Wand war mir plötzlich zu streng, zu kühl, da wollte ich ein bisschen Farbe und weichere Formen entgegensetzen.“

Überhaupt sei die Wohnung in Prenzlauer Berg, in die Diehl vor etwa zwei Jahren gezogen ist, die erste, die sie von Grund auf ihrem eigenen Gusto entsprechend herrichtete. „Außer dem großen Mid-Century-Sideboard, das ich mal vor dem Sperrmüll gerettet habe, ein paar Stühlen und vielen alten Vasen von meiner Mutter und meiner Oma, habe ich eigentlich nichts mitgebracht“, sagt sie.

Tatsächlich sind sie, die 70er-Jahre-Vasen in Rot, Gelb und Türkis das einzige, das hier an Diehls Kindheit erinnert, die nicht ganz so viel zu tun hatte mit den lustig-illustren Kunst- und Modekreisen, in denen sich die PR-Frau heute bewegt. Denn man mag es kaum glauben: In der überaus urbanen, hypermodernen Wohnung lebt ein echtes Mädchen vom Lande.

 „Ich komme aus einem 1.200-Einwohner-Dorf in Hessen, Marburg als nächstgrößere Stadt, aber selbst dahin waren es noch 25 Kilometer“, sagt sie trocken. Kerstin Diehl beschreibt sich selbst als „Hungry Heart“. Als eine, die schon früh was anderes sehen, was anderes sein – die mehr wollte vom Leben. Also ging sie, erst für ein Jahr in die USA, dann fürs Studium der Germanistik und Geschichte nach Gießen. Danach für ein Volontariat nach Hamburg, für einige Zeit nach Düsseldorf, dann in die Schweiz, später für acht Jahre zurück nach Hamburg.

Zwei Jahre hindurch war Diehl zum Beispiel für die internationale Presse des schrillen Designers Philipp Plein verantwortlich, betreute danach auch viele Kunden aus dem Beauty-Bereich wie Douglas oder Schwartzkopff. Heute macht sie unter anderem Pressearbeit für Nespresso sowie Purina – und lebt endlich in Berlin.

„Ich habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, wirklich angekommen zu sein“, sagt Diehl. Und wer diese leichtblütige Frau erlebt, wer mit ihr spricht, kann sie sich tatsächlich kaum woanders vorstellen, als in dieser Wohnung, in dieser Stadt. Kein Wunder, dass auch Kerstin Diehl vor ihrem Umzug immer wieder diesen einen legendären Satz gehört hat, der schon viele hungrige Herzen hierhergetrieben hat: „Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin!“