ZEIT ONLINE

2022-10-13 00:50:06 By : Mr. Clack Yan

Was den ungeübten Reisenden überrascht: wie heiß es in Taipeh noch im Herbst ist, sobald man die heruntergekühlten Räume verlässt. Und wie politisch sich die Öffentlichkeit seit diesem Jahr gibt. An dem von riesigen Reklametafeln beleuchteten Eingang zur U-Bahn-Haltestelle Ximen laufe ich schwitzend über einen Zebrastreifen in Regenbogenfarben, an jedem zweiten Poller stecken ukrainische Flaggen. Auf dem Weg zu einer Bar namens Yesterday Is Not Today sitzt mir in der U-Bahn ein junger Mann mit einem gelb-blauen Peace-Zeichen auf dem T-Shirt gegenüber. Die Bar ist eine Empfehlung einer Bekannten. Der Inhaber soll Schallplatten mögen, ich mag Schallplatten, das sollte passen.

Yesterday Is Not Today liegt im Viertel Xinyj, unweit des Taipei 101, des 508  Meter hohen Wahrzeichens des modernen Taiwan . Man muss wissen, wo man hinwill, wenn man an der breiten Keelung Road durch ein kleines Café hindurch hinab in den Keller steigt. An den Betonwänden, beleuchtet von gelben Neonröhren, hängen Schallplattenregale. Bekannte Jazz-Größen wie Oliver Jones, aber auch japanische City-Pop-Schönheiten und Herbert von Karajan blicken von den Covern. Ich setze mich an den Tresen und suche das Gespräch mit den Barkeepern. Sam und Simon kommen aus Hongkong. Dort, erzählt Simon, sei es ihm nach der Einführung des rigiden chinesischen Sicherheitsgesetzes zu ungemütlich geworden. Taiwan sei seine neue, freiere Heimat, aber er vermisse Hongkong.

"Dafür ist hier die Barkultur besser", sagt Sam. Das liege auch am japanischen Einfluss, zwischen 1895 und 1945 war Taiwan eine Kolonie des damaligen Kaiserreichs. Er empfiehlt zum Einstieg in die Nacht einen Earl Grey Marteani. Der Hauptbestandteil ist eine Infusion aus Earl-Grey-Tee und Bombay Gin. Ein paar Tage muss das Gemisch ziehen, dann kommt es zusammen mit etwas Zitronensaft und Eiweiß für den Schaum in den Shaker. Sam schüttelt das Ganze nun mit großem theatralischem Ernst. Wenig später nehme ich einen ersten vorsichtigen Schluck. Zu Beginn schmeckt der Marteani salzig, dann bitter und erfrischend sauer – ziemlich perfekt für die Temperaturen, die auch nachts selten unter 25 Grad fallen. Und dann?

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Sam empfiehlt, den nächsten Drink in der 7th Japanese Bar einzunehmen. Sein eigener Cocktail-Meister sei dort Stammgast, sagt er, während er einem anderen Bargast ein Päckchen über den Tresen reicht. Der bemerkt meinen Notizblock, wir kommen ins Gespräch. Eigentlich ist Uri, der eine schwarze Kappe und eine schwere silberne Halskette trägt, nur hier, um das Geburtstagsgeschenk zu holen, das er vergangene Woche liegen lassen hat. Nun hat er Lust, mich zu begleiten.

Das Taxi hält in einer engen Straße im Viertel Zhongshan. Uri erklärt, dass hier früher US-Soldaten stationiert waren, um deren Kasernen herum sich eine noch immer lebendige Rotlicht- und Barkultur entwickelt hat. Auch in diesem Vergnügungsdickicht müssen wir suchen, bis wir den Eingang zur 7th Japanese Bar finden: Erster Stock, im Erdgeschoss ist eine andere Bar, links und rechts von ihr auch. Der Raum ist dunkel, die einzelnen Tische sind mit Vorhängen abgetrennt, die Stimmung hat etwas Sakrales. Der Barkeeper kommt an unseren Tisch, um die Getränke zu erklären – und ich bin dankbar, Uri als Übersetzer dabeizuhaben: Ich entscheide mich für einen Nara, benannt nach einer Stadt auf der japanischen Hauptinsel Honshu, laut Barkeeper ein "simpler, aber raffiniert harter" Whisky mit einer Art Honigwein.

Der Drink kommt mit einem rund geschliffenen Eiswürfel und einem aufgespießten Stück getrockneter Kaki. Der Barkeeper hält einen weiteren Vortrag, wie ich das Ganze am besten genießen soll. Als er nach etwa zwei Minuten fertig ist, fasst Uri pragmatisch zusammen: Erst in die Kaki beißen, dann trinken. Ich folge der Anweisung – und bin absurd angetan. Der Whisky schmeckt überraschend unrauchig, ich fühle mich eher an Tee erinnert, die Süße des Honigs dominiert. Uri trinkt einen Okinawa, die Bestandteile übersetzt er mit "gemischtes starkes Zeug".

Wir unterhalten uns über seine Kindheit in Taiwan, das fürchterliche Studium in den USA, das ihn dazu brachte, Künstler zu werden. Und das Fremdheitsgefühl, das er empfindet, seit er zurück in Taiwan ist. Macht er sich Sorgen, dass sich China seine Heimat in der Zukunft einverleiben könnte? "Klar sollte mich das interessieren. Aber ich mache mir schon genug Sorgen um mich selbst." Er müsse sich auf seine Kunst konzentrieren, seine Geschwister seien erfolgreicher – das setze ihn mehr unter Druck als das autoritäre Nachbarland. Außerdem sei hier alles so polarisiert und inszeniert. Er erzählt von einer Parlamentsabgeordneten, die Wähler im Manga-Comic-Kostüm für sich überzeugen will. "Verrückt!", sage ich und denke an den als Shrek verkleideten Markus Söder.

Es ist schon nach ein Uhr, viele Bars schließen um zwei, wir müssen weiter! Die nächste Bar, die uns das 7th-Japanese-Personal empfiehlt, hat leider keine Plätze frei. So landen wir ein paar Meter weiter in der winzigen No. 19 Bar. Der Abstand zwischen Tresen und Wand beträgt keine Ausgestreckter-Arm-Länge. Hinter der Bar steht eine Frau mit Hosenanzug und Krawatte, auch das Interieur hat was von einer geschrumpften Hotelbar: Holzverkleidung, weißes Licht – aus den Boxen klingt leise ein Song von Radiohead. Als unser Sitznachbar an der Bar hört, dass ich aus Deutschland komme, sagt er fast akzentfrei: "Guten Abend!" Ich bemühe mein Chinesisch, antworte versehentlich mit "Zăoshang hăo!", "Guten Morgen!" – und schon hat die ganze Bar was zu lachen.

Ich bekomme einen Penicillin, in sehr reduzierter Variante: Das Glas ist nur zu etwa einem Viertel gefüllt, darin eine Mischung aus schwedischem Whisky, Zitrone und etwas Ingwerartigem – die Rezeptur will die Barkeeperin nicht verraten. Uri nimmt einen klassischen Negroni. Ihm fällt sein Geburtstagsgeschenk wieder ein, das er noch nicht ausgepackt hat. Es ist ein Buch, der Titel "Warum ist Kunst so traurig?". Es folgt ein Seufzer, dann heißt es "Wăn’ān", "Gute Nacht".

No. 182, Section 1, Keelung Rd, Xinyi District, Taipeh, 110 Do–Fr 19–23 Uhr, Sa 19–2 Uhr

No. 47, Lane 119, Linsen N Rd,  Zhongshan District, Taipeh, 10491 Mo–So 20–3 Uhr

No. 19, Lane 133, Linsen N Rd,  Zhongshan District, Taipeh, 10491  Mo–So 20–3 Uhr

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