Vom Knacki zum Unternehmer - brand eins online

2022-10-09 00:28:49 By : Mr. Qinan Huang

• Karlsfeld, am nordwestlichen Stadtrand von München. Ein Neubau in einer Seitenstraße zwischen Autobahn und Gewerbegebiet. Der Besuch hat kaum Platz genommen auf dem schwarzen Sofa im Wohnzimmer. Da kommt schon die Frage.

„Ich würde gern wissen, was Sie erwartet haben.“

Was sollten wir erwartet haben? Dass er, wie zuvor telefonisch vereinbart, seine Geschichte erzählt. Sein Leben, wieso er wiederholt im Gefängnis landete und wie er seit seiner Entlassung versucht, das künftig zu vermeiden. Nicht, dass er alles erzählen müsse. Doch wenn er erzähle, dann die Wahrheit.

„Das meinte ich nicht, ich verstecke mich nicht; ich meinte, welchen Menschen Sie erwartet haben.“

Christian Hans Müller sitzt auf einem Stuhl neben dem schwarzen Sofa und knetet seine tätowierten Finger. Ein athletischer Mann, das grau durchsetzte Haar kurz geschoren, Oberlippen- und Kinnbart akkurat gestutzt. An einem Schreibtisch daneben Christa K., seine Lebensgefährtin. Pechschwarzes Haar, schwarze Kleidung, perfektes Make-up. Schwarz steht ihr. In der Schrankwand ein großer Flachbildschirm, an den efeuumrankten Wänden afrikanische Masken, der Teppich unter dem Glastisch gemustert wie das Fell eines Leoparden. Es ist K.s Wohnung.

Müller sagt: „Ich weiß doch, was die Menschen von so einem wie mir erwarten: Was will denn der Knacki, der Kriminelle? Ich bin der Bad Boy.“

Mitte April, nach seiner Entlassung und viereinhalb Monaten Drogentherapie, hatte er einen Termin im Jobcenter, München, Stadtteil Pasing. Er saß vor einer Frau mittleren Alters. Vor der Frau lag seine Akte, in der seine Schussfahrt ins soziale Abseits dokumentiert ist.

Müller wächst auf in Unterföhring bei München. Vater Berufsschullehrer, Mutter Hausfrau. Deutsche Mittelschicht. Er besucht nach Grund- und Hauptschule ein Internat, später eine Handels- und Wirtschaftsschule. Er fängt früh an, Haschisch zu rauchen. Das gehört dazu, wenn man mit den Kumpels feiert. Es folgen abgebrochene Ausbildungen als Heizungsmonteur, Konditor und im Fahrzeugbau. Die Partys mit den Kumpels sind wichtiger. Müller handelt mit Autos, gebrauchten Elektrogeräten, überredet an der Haustür unbedarfte alte Leute zu Spenden für scheinbar wohltätige Organisationen. Einer geregelten Arbeit geht er nicht nach. Mit 23 wird er wegen Fahrens ohne Führerschein erstmals zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er nicht zum Prozess erscheint.

Bis dahin, sagt Müller, habe er „ein bisschen geraucht“. Selten härtere Sachen. „Im Gefängnis war ich plötzlich in der kriminellen Szene. Du lernst Dealer kennen, übernimmst deren Geldmentalität, du entwickelst deine eigene Sicht auf den Rechtsstaat und seine Gesetze.“ Nach seiner Entlassung steigt er in den Drogenhandel ein, konsumiert zunehmend die eigene Ware, überwiegend Kokain. Die nächste Haftstrafe erhält er wegen unerlaubter Einfuhr von sieben Kilogramm Haschisch. Christa K., mit der er aufgewachsen ist und kurz zuvor eine Tochter bekommen hat, bricht die Verbindung ab. Frau weg, Kind weg, keine berufliche Perspektive. Müller wartet auf seine Entlassung, „um richtig Gas zu geben“.

Was danach kommt, kann er nur unvollständig rekonstruieren. Er steigt auf zum Chef eines regionalen Drogenrings, zum Kokain kommen Amphetamine, Speed, Ecstasy, auch Heroin. „Du denkst, du funktionierst besser mit Drogen, aber das ist eine Illusion. Irgendwann bist du komplett substanzgesteuert und weißt nicht mal, was du Tage zuvor gemacht hast.“ Die nächste Verurteilung. Zwei Jahre, acht Monate, inklusive Zwangstherapie ist er fünf Jahre weg. Nicht lange in Freiheit, folgt die nächste Verhaftung. Insgesamt verbringt er 15 Jahre hinter Gittern, ein Drittel seines Lebens. Im Dezember wird er 46.

Man stellt sich die Frau im Jobcenter vor. Spartanischer Schreibtisch, nüchterne Schrankwand, täglich 20, 30 schwer bis nicht vermittelbare Fälle. Die Frau sagt, man werde es bei ihm mit einem Ein-Euro-Job versuchen. Müller sagt, er wisse, „das ist kein Wunschkonzert“, aber er würde gern eine Firma gründen. Ob es Zuschüsse für Existenzgründer gebe? „'tschuldigung“, sagt die Frau, „mit der Idee kommen Hunderte, und bei Ihnen wird das sowieso nicht klappen.“

Nicht bei einem Knacki, einem Kriminellen, der in seinem Leben nie etwas Anständiges zustande gebracht hat.

Müller legt einen Businessplan auf den Tisch. 25 Seiten. Beschreibung der Dienstleistung. Marktanalyse. Personalplanung. Sozialleistungen. Umsatzziel. Dazu ein Zertifikat der Steinbeis-Hochschule Berlin, das ihn ausweist als Innovation & Business Creation Specialist. Die Frau blättert durch die Papiere. Schaut ihn an. Lange Pause. Dann fragt sie: „Wo haben Sie denn das alles her?“

Gräfelfing, westlicher Stadtrand von München. Ein Bürogebäude im Gewerbegebiet, Bussardstraße 5, erster Stock. Bernward Jopen springt auf, eilt zum Aktenschrank. Ein Griff. „Ah, hier habe ich eine Kopie des Artikels.“ Er stammt aus der »Financial Times Deutschland« vom 24. April 2009. Jopen ist ein sehr vitaler 70-Jähriger. Er doziert gern, ist nicht zu bremsen. Wer bei Jopen eine Frage stellt, muss mit drei Antworten rechnen.

Als junger Mann hat er Fernmeldemonteur gelernt, danach Elektrotechnik studiert, als Software-Entwickler, Gruppenleiter und Manager bei diversen Unternehmen gearbeitet, drei Unternehmen gegründet und sechs Start-ups bei ihrer Gründung beraten. 2002 baut er das UnternehmerTUM mit auf – Zentrum für Innovation und Gründung der Technischen Universität München. Pro Semester hören bis zu 500 Studenten seine Vorlesungen. Bei der Recherche nach Unterrichtsstoff stößt er auf den Artikel mit dem Thema: das Ausbildungsprogramm eines US-amerikanischen Gefängnisses, das Strafgefangene zu Unternehmern macht.

Das Prison Entrepreneurship Program (PEP) wird von Catherine Rohr ins Leben gerufen. Sie arbeitet an der Wall Street, wo sie über Risikokapital-Beteiligungen an neu gegründeten Firmen entscheidet. Im Jahr 2004 besucht sie mit einer Freundin das Gefängnis in Cleveland, Texas, 70 Kilometer nördlich von Houston. Sie erwartet, auf einen „Haufen Tiere hinter Gittern“ zu treffen. Und trifft auf „Menschen mit unglaublichem Potenzial“. Sie erkennt: „Erfolgreiche verbrecherische Organisationen werden nach ähnlichen Prinzipien geführt wie legale Unternehmen.“ Ergo haben erfolgreiche Kriminelle Eigenschaften, die auch in der freien Wirtschaft gefragt sind: Risikobereitschaft, Initiative, Kreativität, Durchsetzungsvermögen. Rohrs PEP entwickelt sich schnell zu einem Erfolgsmodell. Sie bezeichnet Gefängnisse als „größten unentdeckten Talent-Pool Amerikas“.

Die Story macht Bernhard Jopen neugierig. Also reist er nach Texas, „voll mit Vorurteilen bis unter die Haarspitzen“. Nach einer Woche ist er überwältigt vom Engagement und Ehrgeiz der PEP-Teilnehmer, die ihn zum Abschied umarmen: Mörder, Totschläger, Gang-Bosse. 80 Mann, einer nach dem anderen. Jopen beschließt, seinen Job an der TU München zu kündigen und ein ähnliches Programm in Deutschland zu entwickeln. Bei seinem zweiten Besuch in Texas begleitet ihn seine Tochter Maren, die als Gruppenleiterin bei einem Telekommunikationskonzern arbeitet, verantwortlich für Markenkommunikation. Nach der Rückkehr aus Texas erzählt sie ihrem Vorgesetzten von PEP. Der sagt: „So begeistert habe ich dich schon lange nicht mehr reden hören.“ Der Chef sagt: „Das musst du machen.“

2010 gründen Vater und Tochter die Leonhard gGmbH Unternehmertum für Gefangene, benannt nach dem Heiligen Leonhard, der unter anderem als Schutzpatron der Strafgefangenen gilt. Sie schreiben der bayrischen Justizministerin Beate Merk, werden zu einem Gespräch eingeladen, reichen einen Businessplan ein, überzeugen die Ministerin und erhalten über das bayrische Arbeits- und Sozialministerium eine Teilfinanzierung für 30 Monate aus dem Sozialfonds der Europäischen Union.

Der erste Kurs, den sieben Häftlinge absolvieren, beginnt im Januar 2011 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Landsberg. Zulassungskriterien sind sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache und eine verbleibende Haftzeit von mindestens sechs und maximal zwölf Monaten; Sexualstraftäter und Serienbetrüger sind ausgeschlossen. Die Häftlinge müssen sich schriftlich bewerben, die Leonhard-Mitarbeiter bei einem Vorstellungsgespräch von ihren Ambitionen überzeugen und die Zustimmung des Justizministeriums erhalten.

Inzwischen findet die Ausbildung in der JVA München statt. Auch beim derzeit laufenden vierten Kurs werden die Teilnehmer 20 Wochen lang eingewiesen in Themen wie „Unternehmensarten und Inhaberschaft“, „Marketing für Ihr Produkt“, „Finanzkennzahlen und Break-even-Analyse“ oder „Franchising und Exit-Strategien“. Sie lernen, Pressemitteilungen zu schreiben, vor der Gruppe zu sprechen und entwickeln einen Businessplan für ihre Geschäftsidee, bei dem sie von Münchner Studenten unterstützt werden, die dafür Marktrecherche betreiben; freier Internetzugang ist bayrischen Häftlingen in der Regel verwehrt.

Neben Bernward und Maren Jopen sowie deren Mitarbeitern unterrichtet eine Reihe externer Dozenten. Der Vertreter einer Bank erläutert, wie die Mitarbeiter einer Kreditabteilung ticken. Ein Personalfachmann vermittelt Bewerbungsstrategien. Der ehemalige Produktionsleiter eines Automobilherstellers spricht über gewaltfreie Kommunikation. Es gibt einen Gedächtnistrainer, ein Werteseminar, und sie haben einen Unternehmer aus Hamburg, der erzählt, wie er seine Insolvenz und 350000 Euro Schulden überwand. Bernward Jopen nennt es die „Vermittlung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen“. Am Ende steht die Prüfung nach einem Zertifikatsprogramm der Steinbeis-Hochschule sowie eine Abschlussfeier mit geladenen Gästen, bei der die Kursteilnehmer ihre Geschäftsideen vorstellen.

Resozialisierung ist das offizielle Ziel des Strafvollzugs. So gesehen ist das Leonhard-Programm nur eine von vielen Maßnahmen, die den Strafgefangenen zur vielzitierten zweiten Chance verhelfen sollen. Auch in Bayern werden Schul- und Berufsausbildung oder Computerkurse angeboten, allein die Bibliothek der JVA München umfasst 30000 Bände, sogar die Teilnahme an einem Fernstudium der Universität Hagen ist möglich.

Tatsächlich ist die zweite für viele Strafgefangene die erste echte Chance im Leben. 29 Prozent der Inhaftierten in bayrischen Gefängnissen haben keinen Schulabschluss, 50 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung, 54 Prozent waren vor ihrer Inhaftierung arbeitslos. Bernward Jopen sagt: „Was glauben Sie, wo rüber sich diese Leute während ihrer Haftzeit Gedanken machen?“ Die Rückfallquote liegt in Deutschland zwischen 38 und 48 Prozent, unter jugendlichen Straftätern bei knapp 69 Prozent.

Es geht aber nicht nur um die Chancen der Häftlinge: Jeder Entlassene, der nicht rückfällig wird, spart Geld. In Bayern fallen pro Inhaftiertem jährlich etwa 28000 Euro an, bei einer durchschnittlichen Haftdauer von drei Jahren bei Rückfalltätern summiert sich das auf mehr als 84000 Euro – die Kosten für Prozesse und Bewährungshilfe nicht eingerechnet. „Es geht darum“, so Bernward Jopen, „aus potenziellen Rückfalltätern und Sozialhilfeempfängern möglichst Steuerzahler zu machen. Der Wert, den sichere Straßen, präventiver Opferschutz, die Stabilisierung von Gesellschaft und Familie haben, lässt sich gar nicht beziffern.“

So weit die Theorie. Doch welche Aussicht auf Erfolg hat Bildung im Knast, wenn nach der Entlassung das Führungszeugnis einem Arbeitsplatz im Weg steht, der Schufa-Eintrag einem Mietvertrag und die unbewältigte Alkohol- oder Drogensucht dem Willen zum Neuanfang? Oft fehlt zudem Rückhalt, weil die Familie zerbrochen ist, Freunde aus dem kriminellen Milieu kommen und das Selbstbewusstsein im Gefängnis konsequent unterminiert wurde. Das bei Entlassung ausgezahlte Überbrückungsgeld von maximal 1700 Euro ist ohnehin schnell aufgebraucht.

„Das ist der Punkt, an dem Leonhard ansetzt“, sagt Bernward Jopen. „Selbstständigkeit ist ein naheliegender und probater Weg, den die Entlassenen beschreiten können. Und wenn wir sie nicht zu Entrepreneuren machen, dann wenigstens zu Intrapreneuren, unternehmerisch denkenden und handelnden Angestellten.“ Jopen ist überzeugt: „Das Potenzial ist da, was fehlt, ist die Anleitung, es in rechtskonformer Art und Weise zu nutzen.“ Von den ersten 700 Absolventen des PEP in Cleveland, Texas, gründeten 70 eine Firma; die Beschäftigungsrate lag bei 60 Prozent, die durchschnittliche Dauer bis zur Arbeitsaufnahme bei vier Wochen, die Rückfallquote unter zehn Prozent.

Justizvollzugsanstalt München, Stadelheimer Straße 12, Stadtteil Giesing. Hoher Beton, klobige Wachtürme mit stumpfen Dächern. Sankt Adelheim, wie es im Volksmund genannt wird, ist Bayerns größtes und berühmtestes Gefängnis. Die ältesten Gebäude wurden 1894 in Betrieb genommen. Adolf Hitler war hier inhaftiert. Hans und Sophie Scholl wurden hier hingerichtet. 1977 beging die RAF-Terroristin Ingrid Schubert in Stadelheim Selbstmord. Das Gefängnis beherbergt etwa 1250 Gefangene, 90 Prozent sind Männer, darunter der ehemalige brasilianische Fußballprofi des FC Bayern München, Breno, der wegen schwerer Brandstiftung einsitzt. Prominenteste weibliche Inhaftierte dürfte Beate Zschäpe sein, Mitglied des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die derzeit vor Gericht steht.

Es ist Montag, 7.30 Uhr. Sandra Otten wartet hinter dem stählernen Eingangstor. Nicht mitgebracht werden dürfen, das hatte die Justizvollzugsbeamtin über Leonhard mitteilen lassen, scharfe Gegenstände, Waffen, Schlüssel, Geld, Mobiltelefone. Autoschlüssel könnten bei der Torwache abgegeben werden, für Wertgegenstände, Brieftaschen und Mobiltelefone stünden Schließfächer am Eingang zur Verfügung. Der Beamte sitzt dort hinter Panzerglas und scherzt bei der Abgabe des Personalausweises. Man könne sich die Zellen gern näher ansehen: „Man weiß ja nie, wo einen das Leben hinführt.“

Durch einen Metalldetektor, die Treppe hoch, vorbei am Anwaltswarteraum, an Sitzbänken, auf denen Angehörige von Inhaftierten, Mütter mit kleinen Kindern auf dem Schoß, auf ihren Besuchstermin warten. Otten, die seitens der JVA München für das Leonhard-Programm zuständig ist, geht voran. Kahle Flure, gekachelte Böden; klobige Schlüssel knarren in schweren Gittertüren. Metallisches Knallen hallt durch die Flure. Die Wände leer. Alles beige. Oder grau. Kein bunter Klecks. Von überall fällt der Blick auf Gitter oder Mauern oder beides.

Sie empfand, sagt Otten, das Leonhard-Programm „anfangs als befremdlich“. Nicht wegen des zusätzlichen Arbeitsaufwands, den die Ausbildung mit sich bringt. Die Teilnehmer werden aus ganz Bayern nach München verlegt und in einem eigenen Zellenblock untergebracht. Arbeitsmaterial, Diaprojektoren, Unterrichts raum müssen bereitgestellt werden. Vielmehr habe sie sich gefragt: „Ausgerechnet Unternehmer wollen sie aus Straftätern machen?“ Der erste Gedanke: „Wie soll das funktionieren?“ Und, zweiter Gedanke: „Was passiert, wenn es tatsächlich funktioniert?“ Könnte die Ausbildung nicht kriminelle Handlungen unterstützen, wenn sie wieder draußen sind?

Der Unterrichtsraum befindet sich im Hof des sogenannten Nordbaus. 13 Männer in grauer, blauer und grüner Anstaltskleidung sitzen an Tischen, die in Hufeisenform zusammengestellt sind. Man darf ihre Namen nicht verwenden, ihre kriminelle Historie nur verändert wiedergeben, damit keine Rückschlüsse auf ihre Identität möglich sind. Auf den Fotos der Kursteilnehmer dürfen die Gesichter nicht zu erkennen sein. Das liegt auch im Interesse der Gefangenen. Identifizierbar zu sein könnte ihren künftigen Plänen zuwiderlaufen.

Nur so viel: Die 13 Männer verbüßen Freiheitsstrafen wegen Diebstahl, Raub, Erpressung, Hehlerei, Körperverletzung, die meisten wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Sie sind zwischen Anfang 20 und Ende 50. Groß, klein, dick, dünn. Der eine gibt sich schüchtern, der andere forsch, der eine intellektuell, der andere emotional, der eine schnippisch, der andere sachlich, einer sagt gar nichts. Einer hat Probleme mit der Grammatik und ein anderer mit dem Redefluss. Wie wilde Tiere wirken sie jedenfalls nicht. Bernward Jopen sagt: „Wenn Sie sich in der Münchner Fußgängerzone wahllos 13 Männer rausgreifen, sehen die nicht viel anders aus.“

Was sie verbindet, ist, dass sie sich unisono zu ihrer Schuld bekennen. Dass alle behaupten, sie hätten ihre Strafe verdient und ihre Lektion gelernt. Sie machen das durchaus überzeugend. Nicht dass man vergessen hätte, was Otten auf dem Weg zum Unterrichtsraum sagte: „Man sollte bedenken, dass es einen Grund gibt, warum die hier sind.“ Gehört nicht die Lüge zur Straftat wie der Sohn zum Vater? Einmal Lügner, immer Lügner? Otten: „Das habe ich nicht gesagt, nur dass man nicht blauäugig sein sollte.“ Andererseits: Ich denke, die Kursteilnehmer sind sich im Klaren, dass sie ganz unten angekommen sind, tiefer geht's nicht, und den Willen, sein Leben ändern zu wollen, darf man niemandem per se absprechen.“

Am Vormittag steht das Thema „Managen von Produktion, Vertrieb und operativem Betrieb“ auf dem Stundenplan. Jopen referiert über den Kostenfaktor Personal, Gantt-Grafiken, PERT-Diagramme und Gewerbesteuerhebesätze. Marschiert durch den Raum. Hin, her. Die linke Hand in der Jacketttasche, ein Fingerzeig mit der rechten hier, anerkennende Geste für eine Wortmeldung da.

Am Nachmittag werden zwei aktuelle Artikel aus der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« diskutiert. Im einen geht es um Steve Jobs und die Vorzüge der charismatischen Führungskraft. Im anderen um Deutschland auf dem Weg zur Vollbeschäftigung. Die meisten sagen, der Hochtechnologiestandort Deutschland müsse künftig mangels einheimischer verstärkt auf ausländische Fachkräfte, etwa Ingenieure, setzen. Einer lehnt das vehement ab.

„Und was ist deine Lösung?“

„Meine Lösung ist, dass ich in fünf Jahren auf Gran Canaria sein werde.“ Nach allem, was man verstanden hat, hat er Berufserfahrung als Versicherungskaufmann und will auf Gran Canaria ins Immobiliengeschäft einsteigen.

Wenn es nach dem Enthusiasmus ginge, mit dem sie von ihren Geschäftsideen erzählen, müsste man sich um ihr künftiges Leben keine Sorgen machen. Es geht um Haustiere, Altenpflege, Fanartikel für Sportvereine, eine Möbelspedition, Suchmaschinenoptimierung und Erlebnisgastronomie. Auch ein Sicherheitsdienst für Villenbesitzer ist dabei, das Konzept stammt von einem Gefangenen, der sich vor seiner Inhaftierung einen Namen als Tresorknacker gemacht hat.

„Jeder von uns hat nicht nur eine Geschäftsidee“, sagt einer. „Wir haben zwei, drei, fünf, wir waren in unserem vorherigen Leben auch keine Krankenkassen-Angestellten, die brav mit Anzug und Krawatte zur Arbeit gehen und darauf warten, dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen.“

Nehmen wir Christian Hans Müller. „Um das zu machen, was ich gemacht habe“, sagt er über sich, „musst du ziemlich fit sein.“ Sein Drogenring war hierarchisch aufgebaut. Er hatte mehr als ein Dutzend Untergebene, die wiederum Dutzende Untergebene hatten. „Da bist du konfrontiert mit Mitarbeiterführung und -motivation, du brauchst ein faires Entlohnungssystem, musst Konflikte lösen können. Du musst deinen Import im Griff haben, dein Vertriebsnetz pflegen, du musst pünktlich liefern, Forderungen eintreiben, delegieren, permanent schwierige Entscheidungen treffen. Das hat schon viel Ähnlichkeit mit der freien Wirtschaft.“ Und: „Du bist immer im Stress, allein schon, weil du immer Angst hast, erwischt zu werden. Unter solchen Bedingungen zu funktionieren schaffen die wenigsten.“

Verglichen damit ist er für die Geschäftsidee, die er in Stadelheim erarbeitet hat, eher unterqualifiziert. Gemalt, sagt Müller, habe er immer schon gern: Totenköpfe. Gothic-Motive. Im Gefängnis habe er angefangen, den Mitgefangenen seine Bilder in die Haut zu stechen. Das ist zwar aus hygienischen Gründen verboten. Vor allem die Gefahr der Übertragung von Hepatitis C ist hoch. Wer erwischt wird, kassiert Bau. Verschärfter Arrest, wie das im Vollzugsjargon heißt. Sieben Tage ohne Fernsehen, ohne Vergünstigungen wie Tabak, Kaffee oder Schokolade. „Aber“, fragt Müller, „was machst du den ganzen Tag, wenn du nur eine Stunde Freigang im Hof hast?“ Er zieht Fotos aus einem Kuvert. Sie zeigen den über und über tätowierten Oberkörper seines ehemaligen Zellengenossen. „Der war mein Trainingsplatz.“

In seinem Businessplan hat er alles detailliert aufgeführt. Nach seinen Informationen sei erst jeder achte, neunte Bundesbürger tätowiert, aber 44 Prozent aller Deutschen sähen Tätowierungen als „trendy“ an. Wenn sich nur jeder Zwanzigste neu tätowieren ließe, wären das allein vier Millionen Menschen. Bei 150 bis 300 Euro pro Tattoo ergebe das, so Müller, ein Marktpotenzial von 600 Millionen Euro. Auf München bezogen hat er zehn Millionen Euro errechnet. Während seiner Drogentherapie nach der Entlassung hat er ein Praktikum in einem Tattoo-Studio gemacht und erfahren, dass der Jahresumsatz von Studios bei bis zu 300000 Euro liege und diese teilweise auf drei Jahre im Voraus ausgebucht seien.

Müller denkt nicht an ein Studio. Noch nicht. Sein Plan für den Moment: „Ich biete Tätowierungen zu Hause an.“ Home Service. Das habe den Vorteil, dass er nicht nur auf „unbefriedigte Nachfrage reagieren und kostengünstig operieren“ könne, sondern auch Kunden entgegenkommen könne, „die bei Studios eine Hemmschwelle haben – ein bisschen verrucht ist das Geschäft ja immer noch“. Privatsphäre schaffe Vertrauen. Kurzum: „Die Nische ist da.“ Für den Anfang kalkuliere er mit 10 bis 15 Kunden und 2000 Euro Umsatz im Monat.

Kommentar der für ihn zuständigen Mitarbeiterin im Jobcenter München-Pasing: „So gut vorbereitet ist hier noch niemand aufgetreten.“

Bernward Jopen hat den Teilnehmern seines vierten Kurses natürlich von Müller erzählt. Solche Geschichten brauchen sie fast mehr als den Unterricht. Jopen sagt: „Natürlich bietet der Strafvollzug dem Gefangenen jede Menge Angebote, aber all diese Angebote erfordern Initiative seitens des Gefangenen. Initiative wiederum erfordert Zuversicht, sich auf etwas mit der Aussicht auf Erfolg einzulassen. Der Haken ist, dass viele Gefangene Zuversicht und Initiative einbüßen, wenn sie jahrelang eine weiße Wand anstarren. Das reduziert mentale Kraft, Denkfähigkeit und Fantasie. Der Kopf befindet sich im Sparmodus.“

Man muss seinen Kursteilnehmern nur zuhören, wenn sie während der Unterrichtspause rauchend im Hof stehen. Sie lamentieren, wie monoton der Alltag sei, wie stupide die Arbeiten in den Gefängniswerkstätten. Lippenstifte verpacken. Tüten kleben. Um 16.30 Uhr ist Einschluss in der Zelle.

Außerdem ist da der tägliche Kampf mit den Mitgefangenen, um nicht unterdrückt, benutzt, gedemütigt zu werden. Der Zwist mit den Vollzugsbeamten um Vergünstigungen. Einer sagt: „Du kannst nicht immer nur Schach spielen und in die Glotze starren.“ Ein anderer sagt: „Du wartest, dass die Zeit vergeht.“ Und: „Draußen dreht sich die Welt, und du bleibst stehen.“ Soziale Netzwerke? Stünde das Thema nicht auf dem Lehrplan, manche Kursteilnehmer wüssten nicht, was Facebook genau bedeutet.

Bernward Jopen erzählt von einem Kursteilnehmer, der nach seiner Entlassung mit seinem Bruder bei einer Bäckerei stoppte, um für das Frühstück einzukaufen. Und Schweißausbrüche bekam: Wer jahrelang morgens zwei Scheiben Graubrot, abgepackte Margarine und Konfitüre bekommt, den überfordert jede Ladentheke. Es gibt Langzeithäftlinge, die haben mehr Angst vor der Freiheit als vor dem Gefängnis. „Auch dem“, sagt Maren Jopen, „wollen wir mit Leonhard entgegenwirken.“

Drei Beispiele aus dem aktuellen Kurs:

A, 34 Jahre. Aufgewachsen in einer Kleinstadt in Niederbayern. Die Eltern betreiben einen Baumarkt. Ist in seiner Jugend ein vielversprechender Fußballer. Gerät mit 15 an Kokain. Beginnt zu dealen, um die Sucht zu finanzieren. Erste Verurteilung mit 19 wegen illegaler Einfuhr von 40 Kilogramm Marihuana aus den Niederlanden. Fünf Jahre. A sagt: „Ich war jung, ich dachte, ich bin cool, mir kann nichts passieren, auf die erste Haftstrafe war ich fast stolz.“ Zweite Verurteilung wegen räuberischer Erpressung. Noch mal fünf Jahre plus Sicherheitsverwahrung. A: „Da war der Spaß vorbei.“

B, 56 Jahre. Kommt aus Westfalen. Macht Karriere in der Kreativwirtschaft. Eloquent, belesen, intellektuell. Kann über die englische Gesellschaft im 17. Jahrhundert genauso philosophieren wie über Warren Buffett. Konsumiert Kokain zur Stressbewältigung. Irgendwann Burnout. Verurteilung wegen Handels mit Kokain in nicht geringen Mengen. B sagt: „Ich war mit 200 auf der Überholspur unterwegs, depressiv, suizidal, wäre ich nicht im Gefängnis, ich wäre tot.“

C, 36 Jahre. Die Eltern kommen vom Balkan, beide Akademiker, die sich in einer bayrischen Großstadt eine solide Existenz aufgebaut haben. C studiert Informatik, gründet eine kleine Firma. Die Firma hat 20 Angestellte, als drei Kumpels nach einem Überfall Diebesgut und Tatwaffen bei ihm deponieren. C weigert sich, bei der Polizei ihre Namen preiszugeben. Zwei Jahre und drei Monate wegen gewerbsmäßigen Bandendiebstahls und unerlaubten Waffenbesitzes. C sagt: „Ich hätte nicht mitmachen sollen, aber als ich mitgemacht hatte, konnte ich nicht mehr zurück.“

A sagt, er sei „komplett vernagelt“ bei Leonhard angekommen. „Ich dachte: wieder so ein Hokuspokus des Strafvollzugs.“ Nun sagt er: „Leonhard war meine beste Zeit im Knast, seit ich hier bin, macht es mir nichts aus, eingesperrt zu sein.“ Selbst sein Vater sage, wenn der Sohn ihm wieder erkläre, wie er seinen Betrieb optimieren könne: „Was ist denn mit dir los?“ Eine Ausbildung zum Metzger, seinem „Traumberuf“, hat A schon vorher im Vollzuggemacht. Nach seiner Entlassung will er mit Fleisch handeln. A: „Von Handel verstehe ich was, ich wechsle nur das Produkt.“

B sagt, er sei „völlig deprimiert“ bei Leonhard angekommen. „Gefängnis ist völlig frei von Sinnhaftigkeit, frei von geistiger Nahrung, stattdessen wirst du fremdbestimmt von Menschen, die du im richtigen Leben nie an dich heranlassen würdest.“ Nun sagt er: „Ich habe bei Leonhard Persönlichkeitsentwicklungen erlebt, die im regulären Strafvollzug völlig undenkbar wären.“ Er schließt sich selbst mit ein. Inzwischen hat er ein Angebot eines Leonhard-Dozenten aus der Medienbranche. „Wir haben festgestellt, dass wir über 30 Jahre lang beruflich eng mit denselben Leuten zu tun hatten, ohne uns begegnet zu sein.“

C sagt, er sei „einigermaßen desinteressiert“ bei Leonhard angekommen. „Ich habe studiert, ich war schon Unternehmer, ich dachte: Was können die mir noch beibringen?“ Hätte ihm Sandra Otten nicht energisch zugeredet, er hätte sich gar nicht erst beworben. Nun sagt er: „Ich konnte hier nicht nur mein Wissen auffrischen, sondern habe auch völlig neue Anregungen mitgenommen.“ Das Werteseminar etwa habe ihn fasziniert. Die Rollenspiele. Mal einen Arbeitgeber mit Vorurteilen zu mimen, einen unwilligen Investor – „da tun sich völlig neue Horizonte auf.“ Das alles könne er umsetzen, wenn er nach seiner Entlassung seine Firma – die momentan von den Eltern geführt wird – wieder übernehme.

Was alle sagen: wie sehr sie es genössen, Umgang zu haben mit Menschen, von denen sie nicht wie Häftlinge behandelt würden; welche Anerkennung, sogar Wertschätzung sie empfänden, wenn jemand auf eigene Kosten aus Schottland anreise, um vor ihnen zu sprechen. Und wie dankbar sie seien für den Zugang zu aktuellen Tageszeitungen, die Gespräche untereinander über ihre Geschäftsideen, die gemeinsame Arbeit an den Businessplänen nach dem Unterricht und die Solidarität untereinander. A sagt: „Ich bin hier ein anderer Mensch geworden.“ Einer hat eigens seinen Entlassungstermin freiwillig nach hinten verschoben, um den Kurs abschließen zu können.

München, der Justizpalast am Stachus. Fulminantes Neobarock, dramatischer Lichthof unter einer 67 Meter hohen Glaskuppel. Sitz des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Regierungsdirektor Marc Meyer betont erst einmal, welch große Aufgabe der Justizvollzug sei. Etwa 12000 Gefangene sitzen in Bayern ein, viele Nationalitäten, Probleme mit der Sprache und psychische Auffälligkeiten. C erzählte von einem Mitgefangenen, einem Mörder, der seine Opfer zerstückelt habe – „sonst war der schwer in Ordnung“. Das fällt einem ein, wenn Meyer sagt: „Wir tun, was wir können, immer im Rahmen der Mittel, die uns zur Verfügung stehen.“

Das hat nicht nur mit Geld zu tun. Meyer, 37, eleganter Anzug, höflich, korrekt, steht stellvertretend für den Apparat. Was ihn für Leonhard von Beginn an eingenommen habe, sagt er, sei der „sehr kreative Ansatz“. Er lobt das „beeindruckende Engagement“ der Jopens. „Mit welchem Nachdruck sie für die Interessen des Programms und der Häftlinge eintreten, das zeugt von Herzblut. Über so viel Idealismus verfügt nicht jeder Vollzugsbedienstete.“

Die litten häufig unter Nörgeleien, Querulantentum, offener Ablehnung der Gefangenen. Und es gibt noch einen weiteren Grund für Frustration. „Das Problem ist ja“, hatte Otten gesagt, „dass wir die Erfolge unseres Engagements nicht sehen, wir hören nie wieder von einem Häftling, den wir erfolgreich resozialisiert haben, wir hören nur von denen, die wieder im Gefängnis landen, wir kriegen nur die Negativauslese.“ Umso mehr, sagt der Regierungsdirektor Meyer, schätze er „das Verständnis, das die Jopens den Mitarbeitern der JVA entgegenbringen“. Dass Leonhard heute als Lieblingsprojekt der bayrischen Justizministerin gilt, heißt nämlich nicht, dass die Jopens es anfangs leicht gehabt hätten, akzeptiert zu werden.

Warum tut sich jemand wie Bernward Jopen das in seinem Alter überhaupt an? Warum hat er zusammen mit seiner Tochter 50000 Euro in das Projekt investiert, da er doch längst Golf spielen könnte? Warum sieht jemand wie Maren Jopen, 34, gerade erst Mutter geworden, ihre berufliche Erfüllung weiter in einer Arbeit, die sie gegen den Widerstand der Familie – ausgenommen den Vater – durchsetzen musste?

Der sagt: „Wir legen Wert darauf, nicht den Eindruck zu vermitteln, wir wären Mutter Teresa. Wir machen das, weil wir an die Sache glauben. Das Wegsperren von Menschen allein nutzt niemandem. Aber darüber nur zu lamentieren nutzt auch niemandem. Man muss etwas tun.“

Sie sagt: „Ich weigere mich zu sagen, das sind schlechte Menschen. Das sind Menschen, die schlechte Entscheidungen getroffen haben. Das ist ein Unterschied. Es ist ein wärmendes Gefühl, jemandem zu helfen, der Hilfe braucht. Wenn man mich deswegen für eine Träumerin hält, muss ich das hinnehmen.“

Was die Leonhard gGmbH von vergleichbaren gemeinnützigen Einrichtungen unterscheidet, ist, dass sie wie ein Wirtschaftsunternehmen konzipiert wurde. Der Geschäftsplan ist beeindruckend, die PR mustergültig. Wer die Jopens in Gräfelfing besucht, geht mit einem Stapel Papier, dessen Inhalt keine Frage unbeantwortet lässt, inklusive der Abschrift eines fiktiven Interviews, das das Duo mit sich selbst führte, um seine Motive und Herangehensweise zu erläutern.

Leonhard beschäftigt derzeit fünf Mitarbeiter, die bezahlt werden wie Angestellte in vergleichbaren Positionen des öffentlichen Dienstes. Zum Personal gehört etwa Marisol Harms, die zuvor 15 Jahre bei Airbus in Hamburg-Finkenwerder war, sowie ein Absolvent des ersten Leonhard-Kurses in Landsberg. Ein weiterer Absolvent wird demnächst als Praktikant eingestellt. Er soll Harms bei den anstehenden Bewerbungsgesprächen für den nächsten Kurs begleiten. Bernward Jopen sagt: „Das gibt uns mehr Sicherheit, dass uns niemand etwas vormachen kann.“

Und man sollte nicht glauben, Harms büße Autorität ein, bloß weil sie schon mal in rosa Ballerinas Vorlesungen hält. 2005 hat sie bei den World Games eine Bronzemedaille im Ju-Jutsu gewonnen. „Ju-Jutsu“, so Harms, „haben mich die Jungs im Gefängnis gefragt: Was ist das?“ Eine japanische Selbstverteidigungsart. Oder, wie Harms es formuliert: „Schlagen, Treten, Halten, Werfen, Würgen.“ Das hat ihnen gefallen, den Jungs.

Christian Hans Müller sagt: „Der Unterricht liefert die Basis für einen erfolgreichen Start nach der Entlassung. Wer aus dem Knast kommt, braucht überzeugende sachliche Argumente, dafür war der Kurs für mich überlebensnotwendig.“ Sandra Otten von der JVA München widerspricht nicht, sagt allerdings: „Was mir persönlich am meisten Hoffnung macht, ist die Betreuung, die Leonhard nach der Entlassung anbietet.“

Das Unternehmen arbeitet mit Bewährungshelfern, freien Wohlfahrtsverbänden und den Rechtsanwälten der Entlassenen zusammen. Sie helfen ihnen bei der Wohnungssuche, vermitteln sie an Wohngruppen für ehemalige Straftäter. Sie halten Kontakt zu den Angehörigen, Eltern, Großeltern, Lebenspartnern. Sie stellen Mentoren, die psychologische Betreuung, aber auch fachliche Beratung bei einer Firmengründung anbieten. Leonhard kooperiert mit einem Mikrofinanzierungsfonds, vermittelt Kontakte zu Business Angels. Es gibt einen vierteljährlichen Stammtisch. Eine geschlossene Facebook-Gruppe für Absolventen. Zum Netzwerk der Jopens gehören 134 Geschäftsführer, Führungskräfte, Berater und Investoren. Inklusive Spendern, freiwilligen Helfern, Studenten, Beobachtern und Mitgliedern des Justizsystems arbeiten rund 750 Personen für die gute Sache.

Gauting, 20 Kilometer südwestlich von München, Blumenstraße 8. Bettina Stackelberg wohnt und praktiziert inmitten von Einfamilienhäusern mit Vorgärten voller Sonnenschirme. Eine große, fröhliche Person, auf deren Visitenkarte steht: „Die Frau fürs Selbstbewusstsein“. Wild flattern ihre Haare im Wind, während sie auf dem Balkon Kaffee serviert. Stackelberg arbeitet als Trainerin und Coach, unter anderem im Auftrag von Unternehmen wie BMW oder MAN. Von Leonhard hat sie durch einen Artikel in einer Frauenzeitschrift erfahren. Stackelberg bat Maren Jopen daraufhin, vor der Xing-Regionalgruppe, die sie leitet, einen Vortrag zu halten. „Der Vortrag war brillant“, sagt Stackelberg. „Anschließend habe ich gefragt, ob ich nicht helfen könne. Ich wollte schon immer etwas Ehrenamtliches machen.“

An der Wand ihres Coaching-Zimmers hängt ein Spruch: „Wir sollten viel öfter von ganzem Herzen etwas tun, das kein Ziel verfolgt, das keine Eile hat und sich nicht lohnen muss.“ Weshalb sie nun unentgeltlich bei Leonhard das Selbstvertrauen der Kursteilnehmer stärkt, das Werteseminar leitet und als Mentorin wirkt. Aber natürlich lohnt es sich für Stackelberg, nicht verheiratet, keine Kinder, wenn A ihr sein Herz ausschüttet. „Ich bin 34, fühle mich wie 64 und habe das Gefühl, neun Jahre meines Lebens weggeworfen zu haben.“ Dann sagt Stackelberg: „Für das, was du in diesen neun Jahren begriffen hast, brauchen andere ein ganzes Leben, dafür bist du erst 34.“ Es tut ihr gut, wenn B ihr nach einer Vorlesung schreibt: „Mit Ihnen ging die Sonne auf.“ Und Stackelberg sagt, sie lerne von Leuten wie C, der einmal einem Kursteilnehmer widersprach, der die Ansicht vertrat, die Gesellschaft schulde ihm eine zweite Chance. C habe gesagt: „Du musst dafür sorgen, dass die Gesellschaft dir eine zweite Chance gibt.“

Stackelberg sagt, sie sei gut im Geschäft, sie empfinde ihren Beruf als „Berufung“. Doch gerade Leonhard habe ihr das Gefühl vermittelt, „wirklich etwas bewegen zu können“. Nie habe sie motiviertere Zuhörer gehabt. „Die kriegen durch das Programm häufig zum ersten Mal Anerkennung.“ Besonders wichtig sei ihr, dass sie durch Leonhard ihr Denken revidiert habe. „Vor meinem ersten Auftritt war ich sehr nervös, ich erwartete finstere Gestalten und dachte: Hoffentlich komme ich da heil wieder raus.“ Stattdessen traf sie auf „freundliche und höfliche Männer, die sich per Handschlag verabschiedeten und sagten, sie würden sich schon auf meinen nächsten Besuch freuen“.

Früher habe sie Täter gesehen. Unabhängig von den Umständen ihres Lebens. Schuldig. Heute sehe sie es eher wie der Schriftsteller Max Frisch. "Wenn Menschen", schrieb Frisch, „die eine gleiche Erziehung genossen haben wie ich, die gleichen Worte sprechen wie ich und gleiche Bücher, gleiche Musik, gleiche Gemälde lieben wie ich – wenn diese Menschen keineswegs gesichert sind vor der Möglichkeit, Unmenschen zu werden, [...] woher nehme ich die Zuversicht, dass ich davor gesichert sei?“

„Einen Mord kann ich mir nicht vorstellen bei mir“, sagt Stackelberg, „aber Totschlag im Affekt, einen Diebstahl in finanzieller Not? Ich kann mir Lebenssituationen vorstellen, in denen ich das für mich nicht hundertprozentig ausschließen kann. Dabei bin ich eine, die sich nicht mal traut, falsch zu parken.“

Nach Abschluss des dritten Kurses hatte Leonhard 34 Absolventen, von denen 22 inzwischen aus dem Gefängnis entlassen wurden. Knapp zwei Drittel der Entlassenen haben innerhalb von durchschnittlich neun Wochen einen Arbeitsplatz gefunden. Einer hat ein Studium aufgenommen, ein anderer eine längere Bildungsmaßnahme begonnen. Den Kontakt verloren haben sie nur zu einem der Absolventen. Auch einen Unternehmensgründer haben sie bereits, der allerdings anonym bleiben will. „Es wäre natürlich illusorisch zu glauben, dass jeder unserer Absolventen tatsächlich Unternehmer wird“, sagt Bernward Jopen, „auch wenn wir wissen, dass wir an dem Anspruch, den wir haben, gemessen werden. Am Ende zählt nur, was hinten rauskommt.“

Zurück bei Christian Hans Müller in Karlsfeld, der kurz davor steht, Leonhards zweiter Unternehmensgründer zu werden. Müller sagt, die Frau des Jobcenters München-Pasing habe ihm Unterstützung zugesagt. Er müsse nur noch ein paar Unterlagen nachreichen. Doch „die Sache läuft“.

Zwei Stunden sind vergangen, die anfängliche Spannung hat sich gelöst. Müller erzählt von seinen Eltern. Von der schwierigen Beziehung zu seiner Mutter. Und von der Versöhnung mit seiner Lebensgefährtin, die erst seit seiner Teilnahme am Leonhard-Programm wieder an ihn glaube. Wie stolz er auf seine Tochter sei, die er zwölf Jahre lang nicht gesehen habe und die sich ihr halbes Leben lang schämen musste, wenn sie nach ihrem Vater gefragt wurde. Und ihm dennoch keine Vorwürfe mache. Man denkt an Sandra Otten, die sagte, wenn sie Mitleid habe, dann nicht mit den Strafgefangenen, sondern mit deren Familien, Frauen und Kindern: „Die leiden zu sehen macht mich manchmal traurig.“

„Ich bin dankbar“, sagt Müller, „dass wir endlich als Vater, Mutter und Kind zusammensein dürfen.“ Christa K. sei immer „die Liebe meines Lebens“ gewesen. Christa K.s Blick lässt keinen Zweifel, dass es ihr nicht anders geht. Er sei, sagt Müller, froh, dass er dank K. keine Wohnung suchen musste. So falle es ihm leichter, sein altes Umfeld zu meiden. Obwohl die Versuchung groß sei. Allein wegen der Schulden, die durch Prozess- und Anwaltskosten entstanden seien. Auch vermisse er seinen früheren Lebensstil. Die teuren Uhren, den Schmuck, Geld ausgeben zu können, ohne nachzudenken. K.s Gehalt als Bürokauffrau, so Müller, reiche „gerade für das Allernötigste, finanziell ist es schwierig“.

Dennoch: „Man darf nicht hingehen, wo die Leute sind, man darf nicht ans Telefon gehen, man darf seine Telefonnummer nicht weitergeben.“ Allein schon, um nicht wieder mit Drogen in Kontakt zu kommen. „Es gibt viele Hürden nach der Entlassung“, hatte Sandra Otten gesagt, „und wer weiß, was von der Euphorie des Leonhard-Programms noch übrig ist, wenn die ersten Rückschläge eintreten?“ Müller sagt: „Keine Drogen, keine Versuchung, kein krimineller Impuls.“ Und: „Schnelles Geld ist schlechtes Geld.“ Wenn seine Innovation Tattoo Arts etabliert sei, sagt Müller, wolle er Lebensgefährtin und Tochter in der Firma beschäftigen.

Herr Müller, wir waren im Justizministerium bei Regierungsdirektor Meyer. Wissen Sie, was der gesagt hat? Er hat gesagt: „Ich habe gelernt, dass man manche Darstellungen von Strafgefangenen besser mit Vorsicht genießt, andernfalls erlebt man zu viele Enttäuschungen.“

Christian Hans Müller stutzt. Zum ersten Mal während des Gesprächs erhebt er die Stimme.

„Den Herrn Meyer würde ich gern mal treffen, dem würde ich nämlich auch gern etwas sagen.“

„Ich würde einfach sagen: danke. Das würde ich sagen. Danke für Leonhard, danke, dass ich endlich etwas lernen durfte. Leonhard war das erste Erfolgserlebnis meines Lebens seit meinem 16. Lebensjahr auf der nicht kriminellen Schiene.“ ---